Im letzten Jahr habe ich viel über meine spirituelle Praxis nachgedacht. Denn mir ist aufgefallen, dass es mir immer dann unglaublich schwer fällt, Yoga zu üben oder mir Zeit zum Meditieren zu nehmen, wenn es mir schlecht geht. Wenn mein Körper sich kraftlos und energielos anfühlt, oder wenn ich mich innerlich klein, unbedeutend und von allen verlassen fühle, möchte ich mich am liebsten mit einer Tüte Chips auf dem Sofa einrollen, mich mit Netflix berieseln, stundenlang durch Social Media scrollen und auf bessere Zeiten warten. Aber die Sache ist die: Wir üben Yoga nicht nur, um uns in guten Zeiten ein noch besseres Gefühl zu verschaffen.
Die Sache mit der spirituellen Praxis
Es ist leicht, dich zum Yoga aufzuraffen oder zu Meditieren, wenn du dich körperlich fit und innerlich ausgeglichen fühlst. Aber was, wenn du gerade richtig gestresst bist, dich schlapp fühlst oder in einer regelrechten Krise steckst? Yoga ist weitaus mehr als nur eine körperliche Praxis und bietet eine unglaubliche Fülle an Werkzeugen, um Körper und Geist zu beeinflussen. Körperhaltungen, Atemübungen und Meditationen sind in der Lage, nicht nur unseren physischen, sondern auch unseren emotionalen Zustand zu beeinflussen und zu verändern. Deshalb kann die spirituelle Praxis uns auch unterstützen, wenn wir uns mal nicht so super gut fühlen. Ich glaube sogar, dass das, was wir auf der Yogamatte lernen – egal ob körperlicher oder geistiger Natur – für eben genau diese Momenten gemacht ist.
Meiner Meinung nach gibt die spirituelle Praxis uns Werkzeuge an die Hand, um uns in schlechten Zeiten selber helfen zu können. Yogaübungen, Atemübungen und Meditation sind Tools, die nicht nur unser Wohlbefinden steigern, sondern uns sogar aus emotionalen Tiefs herausholen können. Die den Körper wieder mit Energie auffüllen, wenn er sich müde und kraftlos anfühlt. Und die uns wieder daran erinnern, dass wir weitaus mehr sind als dieser Körper und dieses Leben. Natürlich dient die Yogapraxis uns auch, wenn wir uns gut fühlen. Aber die meisten von uns sind im Alltag doch immer wieder mit größeren oder kleineren Wehwehchen auf körperlicher oder emotionaler Ebene beschäftigt, und das große Ziel des Yoga ist es, sich von all diesen Dingen zu befreien.
Hör auf deinen Körper, aber hör auch wirklich zu!
Das bedeutet nicht, dass wir dem Körper keine Ruhe gönnen sollten, wenn er krank ist oder uns auf andere Weise zu verstehen gibt, dass er eine Pause braucht. Das bedeutet auch nicht, dass negative Emotionen wie Trauer, Wut oder Angst keine Daseinsberechtigung haben und wir diese mithilfe von aufputschenden Atemübungen oder positiven Affirmationen einfach wegwischen sollten. Ganz im Gegenteil: Erst indem wir diesen Gefühlen ihren nötigen Raum geben und ihnen erlauben zu sein, können sie sich auflösen und gehen.
Die spirituelle Praxis lehrt uns vielmehr, dass wir uns nicht suhlen sollten in diesen Empfindungen. Dass wir uns nicht als Opfer unserer Gedanken und Gefühle betrachten sollten. Sondern dass wir in jedem noch so schwarzen Loch versuchen können, uns daran zu erinnern, dass da noch mehr ist als diese Trauer, diese Wut, diese Machtlosigkeit. Und dass wir in der Tat die Fähigkeit besitzen, uns wieder zu verbinden mit dem, was ich gerne als die Quelle bezeichne: Das Universum, die schöpferische Kraft, die kosmische Energie. Und jetzt mal ehrlich: Wie oft hast du nach einer Yogaeinheit oder Meditation wirklich gedacht „Das hätte ich mir jetzt wirklich sparen können!“? Meist ist doch eher das Gegenteil der Fall und du denkst dir: „Wie gut, dass ich es doch gemacht habe und bis zum Ende durchgehalten habe!“
Die inneren Widerstände
Unser Verstand ist unheimlich gut darin, sich Ausreden auszudenken, um uns weiter in unserem Leid baden zu können, und wir identifizieren uns nur allzu gerne damit. Denn wer oder was wären wir ohne die Identifikation mit unseren Gedanken und Gefühlen? Schließlich lernten wir schon im Philosophie-Unterricht: „Ich denke, also bin ich.“ Wenn es uns sehr schlecht geht, sind wir manchmal auch versucht zu glauben: „Ich fühle, also bin ich“. Denn fühlen ist ja immerhin schonmal besser als denken, oder? Doch je tiefer wir in die spirituelle Praxis eintauchen, desto mehr erkennen wir, dass da noch etwas anderes ist, das hinter all dem Denken und Fühlen steht. Und dass der Satz eigentlich lauten sollte: „Ich bin.“ Punkt.
Die Kunst ist, sich immer wieder daran zu erinnen und die inneren Widerstände als solche zu erkennen. Wir sollten lernen zu unterscheiden, wann es uns wirklich schlecht geht und wann wir diese Empfindungen vielleicht nur als Ausrede betrachten, uns nicht mit den darunterliegenden Themen auseinandersetzen zu müssen. In meinem Fall sind es folgende Sätze, die mir mein Verstand immer wieder vorgaukelt:
- Ausrede 1: Ich habe keine Zeit. Ich habe Wichtigeres zu tun.
- Ausrede 2: Ich kann nicht. Ich schaffe das nicht,
- Ausrede 3: Ich bin zu müde. Ich bin zu schlapp Ich sollte mich besser schonen.
- Ausrede 4: Das bringt doch eh alles nichts. Sonst würde es mir jetzt nicht so schlecht gehen. Also lasse ich es gleich bleiben.
Kommen dir diese Ausreden bekannt vor? Welche Ausreden lässt dein Verstand sich immer einfallen, um dich von deinem Vorhaben abzubringen?
Mein Tipp
Wenn du dich das nächste Mal schlapp fühlst und überhaupt keine Lust hast, dich zu bewegen oder zu meditieren, spür einmal genau in dich hinein: Ist es wirklich dein Körper, der Ruhe braucht, oder ist es nicht vielleicht doch dein Kopf? Frage dich: Was möchte mein Körper mir sagen? Was möchte gehört oder gefühlt werden? Dein Körper ist ein direkter Zugang zu deinem Geist, und durch Körperübungen wie Asanas hälst du deinen Körper rein. Der Atem wiederum ist der Schlüssel, um dich mit deinem Körper zu verbinden und ihn bewusst zu bewohnen.
Im Yoga sagt man, dass die Asana in dem Moment beginnt, in dem du sie verlassen willst. Denn das ist der Moment, in dem du einen Durchbruch erlangen kannst. Der Moment, in dem du deine Widerstände überwinden und weiterkommen kannst. Ich finde, das gilt nicht für die Yogapraxis, sondern für das ganze Leben. Wann immer du einen Widerstand bemerkst, schau doch mal genau hin und frage dich, warum er gerade jetzt auftaucht und was sich hinter ihm verbirgt.
Wichtiger Hinweis: Manchmal haben Widerstände durchaus ihre Berechtigung, weil sie dich davor bewahren, dich mit etwas auseinanderzusetzen, für das du vielleicht noch nicht bereit ist. Aber auch das ist ein Teil der inneren Arbeit: Mehr und mehr über dich zu lernen und zu erkennen, wann bestimmte Themen an der Reihe ist. Achte immer auf deine Grenzen, und zögere nicht, dir Hilfe zu suchen, wenn du merkst dass du ein Thema alleine nicht bewältigen kannst!