Vor Jahren habe ich ein Buch geschenkt bekommen, das mich nachhaltig beeindruckt hat: Kein Pfad führt zurück von Maria Blumencron. Darin erzählt die österreichische Filmemacherin von der Flucht sechs tibetischer Kinder von Tibet über den Himalaya bis ins nordindische Dharamsala. Die Geschichte dieser Kinder, die gezwungen sind, ihr Land und ihre Eltern zu verlassen und den gefährlichen Weg über den Himalaya auf sich zu nehmen, um anschließend in Dharamsala vom Dalai Lama persönlich empfangen zu werden, hat mich nie mehr losgelassen und ich habe mir geschworen, einmal im Leben dieses Flüchtlingsdorf zu besuchen.
Geburtstag feiern mit dem Dalai Lama
Das Buch ist der Grund dafür, dass ich Dharamsala für meine Yogalehrer-Ausbildung auserwählt habe. Ich dachte mir, selbst wenn der Dalai Lama zu diesem Zeitpunkt nicht zugegen ist, muss dieser Ort doch etwas Besonderes haben und quasi mit Spiritualität und Mitgefühl angereichert sein. Doch dann fand ich heraus, dass seine Heiligkeit gegen Ende Juni, einige Wochen vor Beginn meiner Ausbildung tatsächlich vor Ort sein würde, um mit seinen tibetischen Landsleuten seinen 80. Geburtstag zu feiern. Ein unglaublicher Glücksfall, denn der Dalai Lama ist selten Zuhause und oft auf Reisen.
Jetzt musste ich es also nur noch irgendwie schaffen, am 21. und 22. Juni in Dharamsala zu sein. Die Probleme mit dem indischen Visa on Arrival hätten mir beinahe einen Strich durch diese Rechnung gemacht. Doch dann stiegen wir am 20. Juni tatsächlich ins Flugzeug nach Delhi, wo wir gegen 21 Uhr landeten. Uns blieben noch rund 10 Stunden, um den rund 470 km entfernten Tempel des Dalai Lamas zu erreichen. Kein Problem, sollte man meinen. Aber Indien wäre nicht Indien, wenn alles so einfach wäre.
You don’t make plans for India. India makes plans for you.
Dharamsala liegt in der nordindischen Provinz Himachal Pradesh, auf ca. 1800 m Höhe am Fuße des Himalayas. Der Ort ins unterteilt in ein Lower und ein Upper Dharamsala. Lower Dharamsala ist im Grunde nur das Wirtschaftszentrum. Wenn Menschen von Dharamsala sprechen, meinen sie zumeist das höher gelegene Upper Dharamsala, auch McLeod Ganj genannt. Denn wenn Menschen von Dharamsala sprechen, tun sie dies meist im Zusammenhang mit dem derzeitigen Dalai Lama, der hier seit seiner Flucht aus Tibet im Jahre 1959 residiert. Der Ort ist zugleich Sitz der tibetischen Exil-Regierung sowie mehrerer Tausend Exil-Tibeter, weshalb der Ort auch als „Little Lhasa“ bezeichnet wird.
Um von Delhi nach Dharamsala zu gelangen, benötigt man unglücklicherweise Zeit. Zeit die wir nicht hatten. Als wir am Flughafen in Delhi ankommen, sind die Nachtbusse schon weg, Taxis kosten ein Vermögen und die einzige Möglichkeit, es rechtzeitig zum Geburtstag des Dalai Lama nach Dharamsala zu schaffen, ist der Nachtzug. Dharamsala selber hat keinen Bahnhof, so dass wir zunächst von Delhi nach Pathankot fahren und die restlichen 83 km mit dem Bus zurücklegen müssen.
Reisen auf indisch
Mit der Zugfahrt beginnt das große Abenteuer Indien: Nachdem es uns gelungen ist, noch ein Ticket für den letzten Nachtzug zu ergattern, hetzen wir zum Gleis. Laut Plan soll dieser in wenigen Minuten abfahren. Mit unseren großen Rucksäcken bepackt, quetschen wir uns an Menschen vorbei und stolpern die Treppe herunter. Doch statt eines einfahrenden Zuges sehen wir hunderte von Indern auf Decken und Zeitungen auf dem Gleis liegen und schlafen – der Zug hat offenbar Verspätung. Nach etwa anderthalb Stunden des Wartens zwischen wuselnden Ratten und sich auf die Gleise entleerenden Menschen fährt er dann doch endlich ein, der Zug. Jetzt beginnt das große Drängeln, weil alle gleichzeitig versuchen, sich in den Zug zu quetschen.
Sich in den engen Gängen zwischen all den Menschen zu bewegen ist beinahe unmöglich mit den großen Rucksäcken. Einen Sitzplatz zu finden so gut wie aussichtslos. Doch dann finden wir tatsächlich eine freie Bank. Wir schieben unsere Rucksäcke darunter und lassen uns erschöpft auf die klebrigen Polster fallen. Wir wollen einfach nur schlafen. Doch gerade, als wir es uns einigermaßen gemütlich gemacht haben, kommt eine indische Familie und erhebt Anspruch auf die Plätze.
Der Geschmack von Zimt und Kardamom
Weil der Zug so voll ist, können wir mit unserem Gepäck jedoch nirgendwo anders hin. Zu müde, um groß herumzudiskutieren, bleiben wir sitzen und lassen die missmutigen Blicke des Familienvaters über uns ergehen. Am Ende erwärmt die Familie sich aber doch noch für uns. Wir rücken enger zusammen, knabbern indische Süßigkeiten und schlafen im Sitzen. Irgendwann in der Nacht weckt uns einer der Söhne: Er hat ein freies Bett für uns ausfindig gemacht, auf dem wir uns ausstrecken können.
Und so manövrieren wir uns zu zweit in eines dieser winzigen Hochbetten, die nicht vielmehr sind als eine viel zu kurze, ebene Fläche, und ich versuche, eingequetscht zwischen der Wand und Julius, ein wenig zu schlafen. Morgens erwache ich von einer indischen Stimme aus dem Gang, die unermüdlich ruft: Chai – Chai – Chai – Chai – Chai! Noch nicht ganz wach luge ich von meiner Nachtstätte herunter in den Gang und sehe einen indischen Verkäufer, der aus einer großen Kanne dampfenden Chai verkauft. Für 10 Rupien – gerade einmal 14 Cent!! Ich nehme eine Tasse des indischen Gewürztees. Und mit dem Geschmack von Kardamom, Zimt und Ingwer im Mund überkommt mich ein Hochgefühl: Ich bin in Indien!
To Do #1: Den Dalai Lama treffen
Nach einer zwölfstündigen Zugfahrt, einer vierstündigen Busfahrt, einer Taxifahrt und einer einstündigen Wanderung erreichen wir verklebt und erschöpft Dharamsala; beziehungsweise den kleinen Ort Baghsu, den ich für meine Ausbildung gewählt habe. Es ist bereits vier Uhr nachmittags und der erste Tag der Zeremonie im Tempel des Dalai Lamas ist vorbei. Wir haben den ersten Teil der Geburtstagsfeier verpasst! Zum Glück bekommen wir am nächsten Tag eine zweite Chance, den Dalai Lama zu sehen.
Und so machen wir uns am nächsten Morgen auf nach McLeod Ganj und zum Tsuglagkhang Komplex, der neben der Residenz des Dalai Lamas auch ein tibetisches Museum, den Tsuglagkhang Tempel sowie das Namgyal Gompa Kloster beherbergt. Am Eingang des Komplexes müssen wir unsere Kameras und Handys abgeben. Erst bin ich etwas enttäuscht – ich werde also keine Bilder vom Dalai Lama machen können? Doch am Ende bin ich ziemlich froh, denn inmitten tausender mit Handys und Kameras bewaffneter Menschen könnte wohl niemand die ganz besondere Atmosphäre dieser Zeremonie genießen…
Im Tempel des Dalai Lama
Nach einem kurzen Securitycheck geht es weiter ins Innere des Komplexes. Dort nehmen wir auf dem Boden inmitten hunderter Tibeter, Mönche und Nonnen vor einer großen Bühne Platz. Das Programm hat bereits begonnen. Es sind nur wenige Touristen und Inder zugegen. Von weitem sehen wir den Dalai Lama auf der Bühne sitzen. Er sitzt vor einem Tisch voller Geschenke und lauscht den ihm zu Ehren gehaltenen Feierlichkeiten. Würdenträger aus aller Welt halten Reden. Es werden tibetische Tänze und Gesänge aufgeführt. Und dann ist er endlich selbst an der Reihe – der Moment, auf den ich gewartet habe. Leider hält er seine Rede auf tibetisch, so dass wir kein Wort verstehen. Doch allein seine Stimme zu hören und die Tibeter zu beobachten, wie sie ihrem Oberhaupt andächtig lauschen, ist magisch. Und anscheinend reißt der Gute auch eine Menge Witze, denn die Tibeter um uns herum kichern am laufenden Band.
Nach der Rede des Dalai Lamas ist die Zeremonie offiziell beendet, und es wird Essen für alle Gäste ausgeteilt. Und zwar nicht nur ein kleiner Snack, sondern eine ganze Mahlzeit: Freiwillige Helfer verteilen hunderte von Schalen mit allerlei tibetischen Köstlichkeiten an die Anwesenden. Wenn der Dalai Lama Geburtstag feiert, dann richtig! Nach dem Essen sind wir schon im Begriff zu gehen, da schlägt die Stimmung plötzlich um. Alle wirken aufgeregt und die Security Männer geben uns Anweisung, entlang des roten Teppichs auf dem Boden Platz zu nehmen. Der Dalai Lama soll den roten Teppich entlang kommen, um von der Bühne in seine Residenz zu gehen! Die Wachmänner nehmen ihren Job sehr ernst und sorgen dafür, dass niemand aus der Reihe tanzt oder etwa eine Wasserflasche das Bild stört. Am Ende sitzen alle aufrecht mit gefalteten Händen zu beiden Seiten des roten Teppichs, den Blick gespannt zur Bühne gerichtet.
Zur richtigen Zeit am richtigen Ort
Dann schreiten nacheinander alle Gäste, die mit dem Dalai Lama auf der Bühne saßen, den Teppich entlang. Ein Würdenträger nach dem anderen geht langsam an uns vorbei. Und schließlich schreitet der Dalai Lama höchstpersönlich über den roten Teppich, zum Greifen nah und immer darauf bedacht, wirklich jedem einzelnen in die Augen zu schauen. Auch mir schaut er für einen kurzen Moment in die Augen. Als unsere Blicke sich treffen, weiß ich, dass all der Stress der letzten 48 Stunden sich gelohnt hat und ich genau in diesem Moment hier sein soll.
„Der Planet braucht keine erfolgreichen Menschen mehr. Der Planet braucht dringend Friedensstifter, Heiler Erneuerer, Geschichtenerzähler und Liebende aller Arten.“ – Dalai Lama

Nach der Zeremonie hatten wir noch einmal das Glück, den Dalai Lama zu sehen: Dieses Mal fröhlich aus seinem Auto winkend!
- Das tibetische Museum kostet keinen Eintritt und bietet einen interessanten und umfassenden Einblick in die tibetische (und dalai lamische) Geschichte bis heute. Unbedingt anschauen!
- Wenn ihr den Dalai Lama auch gerne einmal sehen möchtet oder gar bei einer seiner Vorträge dabei sein wollt, könnt ihr hier seinen Terminplan verfolgen: www.dalailama.com/teachings/schedule.
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